Zuletzt wurde die Kritik an den deutschen Schiedsrichtern und deren Entscheidungen immer lauter. Die Entscheidungen in teils sehr wichtigen Spielen wurden wieder einmal mehr diskutiert als die Spiele und Leistungen der Spieler als Solches. @marc hat sich Gedanken gemacht, wie ein mögliches Lösungsmodell aussehen könnte.
Der Status Quo – Was ist das Problem?
Als am vergangenen Freitag in Bochum der Pfiff für einen möglichen Dortmunder Elfmeter in der 65. Minute ausbleibt, ist das Diskussionsthema des Wochenendes eröffnet. Nach einer Hereingabe von Julian Brandt wird Karim Adeyemi von Danilo Soares von den Beinen geholt im Strafraum der Bochumer. Schiedsrichter Sascha Stegemann entschied auf „Weiterspielen“ und zeigte nicht auf den Punkt.
Alle neutralen Zuschauer waren sich vermutlich schnell einig und auch viele Bochumer Anhänger dürften, bei der Ansicht der Wiederholung vor den Fernsehgeräten, mit einem Eingreifen des Videoschiedsrichters gerechnet haben. Dies jedoch blieb aus und es gab schlussendlich keinen Strafstoß für den BVB.
Diese Szene wurde im Nachgang natürlich mehr diskutiert, als das Spiel selbst. Wenig ging es darum, was in den verbleibenden knapp 94 Minuten passierte. Das zentrale Thema war diese Entscheidung und die daraus resultierenden Debatten rund um den Spieltag. So war Sascha Stegemann der unfreiwillige Mann des Spiels.
Die Stimmen zum Spiel
Sascha Stegemann räumte im Nachgang beim Radiosender WDR2 einen Fehler ein und sagte: „Es war eine unruhige Nacht.“ Weiter sagte er: „Wenn ich die Fernsehbilder sehe, muss ich sagen(…), dass Borussia Dortmund einen Elfmeter hätte kriegen müssen.“
Über die Kommunikation mit dem Videoschiedsrichter sagte er, dass dieser ihm empfohlen habe, „die Szene nicht noch einmal anzuschauen, da keine klare Fehlentscheidung vorlag.“
Zudem gab er an, dass sich die „Proteste der Dortmunder Mannschaft in Grenzen hielten.“ Somit stellt sich die Frage, ob die Entscheidung zum Videostudium eine andere gewesen wäre, wenn der Protest der Dortmunder lauter und die Bank unruhiger geworden wäre.
Manuel Gräfe, ehemaliger deutscher Schiedsrichter, äußerte sich in der Thematik etwas weitreichender, indem er betonte, dass die „Vorbereitung auf ein solches Spiel beinhaltet, die vergangenen Spiele einzubeziehen. Hierbei ist Adeyemi in den vergangenen beiden Spielen mit Gelb aufgrund einer Schwalbe bedacht worden“ und, so Gräfe weiter, „spielte dies vermutlich mit in die Entscheidungsfindung.“
Die Historie des VAR und ähnliche Diskussionen
Seit der Einführung des Videoschiedsrichters zur Saison 2017/18 gab es viele Entscheidungen, die nach Ansicht der Bilder, korrigiert wurden. So lagen hierbei vor allen die faktisch technischen Entscheidungen wie Abseits/Kein Abseits und Tor/Kein Tor seither in einer Korrektheitsquote der Entscheidungen nahe der 100% Marke.
In den Ermässensentscheidungen bezüglich Foul- und Handspielen wurde jedoch häufig im Nachgang über eine Entscheidung diskutiert. Vor allem Entscheidungen über Foul- oder Handspiele vor einer Torerzielung und selbige in Folge einer möglichen Elfmeterentscheidung wurden ständig debattiert.
Der Video Assistent Referee hat somit bei klaren Fehlentscheidungen bezüglich Abseits und Torlinien- beziehungsweise Spielfeldlinienüberschreitungen eine Fehlerquote von nahezu 0% erzeugt, was vor der Einführung des VAR nicht der Fall war.
Die Diskussionen rund um Entscheidungen am Spieltag haben jedoch hingegen nicht abgenommen. Während vorher über nahezu jede Fehlentscheidung diskutiert wurde, wird nun zwar „nur“ noch über Auslegungsentscheidungen bezüglich Foul- und Handspiel diskutiert, dies jedoch dafür in einer gestiegenen Vehemenz, da häufig das Argument fällt, dass der Schiedsrichter mit seinem Team (VAR) die Szene hätte „reviewen“ müssen und dann richtig entscheiden hätte können.
Die Hauptkritik der Fans
Viele Fans sagen, dass der VAR die Emotionen aus dem Sport nehmen würde. Bei dieser These mag man mitgehen, jedoch wären wohl selbige Fans (mich eingeschlossen) in diesen Situationen, wo eine Fehlentscheidung zu Ungunsten des eigenen Teams gefällt wird, oft froh, wenn es „reviewed“ werden würde.
Bei faktischen Entscheidungen rund um Abseits oder Linienüberschreitung sind die Diskussionen daher im Nachgang meist sehr schnell abgeklungen seit Einführung des VAR. Eine solche Entscheidung ist im Nachgang für jeden Fan klar ersichtlich und nachvollziehbar.
Dass bei einigen Entscheidungen, die Auslegungssache sind, nicht immer zu 100% die gleiche Entscheidung, wie in einem möglichen Präzedenzfall der Vergangenheit gefällt wird, dürfte auch jedem Fan einleuchtend sein, da der Fussball nicht immer nur Schwarz-Weiß-Denken ist, sondern in solchen Entscheidungen immer ein gewisser Graubereich existiert.
Die Auslegung dieser Entscheidungen im Graubereich kann nicht immer gleich gefällt werden, da jeder Schiedsrichter eine andere Wahrnehmung hat und dementsprechend auch die geltende Regel immer etwas unterschiedlich auslegt.
Wären wir uns alle immer in jeder Entscheidung im Graubereich einig, dann wäre der Fussball langweilig. Man stelle sich nur mal vor, 50.000 Leute im Stadion fänden jede Einwechslung eines Trainers immer gleich, das würde jegliche positive sowie negative Emotion, die von den Fans doch so ersehnt, verfallen.
Vergangene strittige Szenen
Seit Einführung des VAR wurden oben beschriebene Situationen im Graubereich, die auf dem Feld zunächst fälschlicherweise anders bewertet wurden, teilweise nicht noch einmal angeschaut. Nachfolgend haben wir zwei von etlichen Beispielen aufgelistet, in denen diskutiert wurde, ob ein Einschreiten des VAR gerechtfertigt gewesen wäre oder ob ein Videostudium hätte vollzogen werden müssen.
Ein Beispiel dafür ist das Pokalspiel von Werder Bremen gegen den FC Bayern im Halbfinale des DFB Pokals 2019. Die Bayern bekamen in dieser Partie einen Elfmeter nach vermeintlichem Foul von Gebre Selassie an Coman zugesprochen, der „kein Elfmeter war“, wie der DFB im Nachgang einräumte. Ein Videostudium blieb aus.
In der Nachspielzeit des Duells von Köln in Stuttgart im Oktober 2017 wurde ein auf dem Feld gegebener Elfmeter nach Ansicht des Videomaterials zurückgenommen und Köln kassierte im Anschluss noch den Treffer zum 2:1 Sieg für Stuttgart. Die Kölner beklagten sich in der Folge, dass dies „keine klare Fehlentscheidung war.“
Eine mögliche Lösung: Die Challenge
In den vergangenen Wochen wurde das Thema der Challenge viel diskutiert. Diese könnte anhand der Beispiele aus den USA erfolgen. In der NFL und NBA werden bereits sogenannte „Coaches Challenges“ verwendet. Im Falle einer strittigen Entscheidung im Auslegungsbereich kann der Coach eine Challenge und damit verbundenes Videostudium der Schiedsrichter einleiten. Hierfür meldet er einen Einspruch an und setzt seine Challenge. Während einer Partie stehen dem Coach des Teams hierbei zwei (Eine in der NBA) Challenges zur Verfügung. Die Schiedsrichter schauen sich nach dem Einsetzen dieser Challenge die Situation erneut am Videobildschirm an und korrigieren die auf dem Feld getroffene Entscheidung, falls sie ihrer Ansicht nach falsch war.
Sofern die Challenge erfolgreich war, erhält der Coach seine Challenge zurück und bleibt bei zwei möglichen Challenges. Sofern er falsch liegt, verliert er beispielsweise ein Time-Out.
Eine mögliche Darstellung im Fußball
Nach einer Entscheidung des Schiedsrichters könnte ein Trainer die Sichtung des Videomaterials in Form einer Challenge beim vierten Offiziellen am Spielfeldrand anmelden. Der Zeitraum hierfür könnte, ähnlich wie aktuell beim VAR geregelt, solange möglich sein, bis der Ball das Spielfeld verlassen hat oder das Spiel durch einen Pfiff unterbrochen wird.
Damit die Challenge sinnvoll und nicht zu zeitintensiv angewendet werden könnte, muss jedoch klar geregelt sein, was gechallenged werden darf und was nicht. So müssen faktisch technische Entscheidungen wie Abseits und Linienüberschreitungen weiterhin in der Verantwortung der Offiziellen und Assistenten liegen. Strittige Szenen im Graubereich müssten nun jedoch zur Überprüfung von den Trainern angefordert werden. So könnten mögliche Überprüfungen von Hand- und Foulspielen zukünftig nur noch durch Challenges der Trainer -sofern vorhanden- ausgeführt werden.
Besonderer Vorteil: Es könnte erstmalig auch um Freistosssituationen nahe des Strafraumes gehen, die bislang kein Fall für den VAR sind. Oft können diese auch eine sehr gute Torgelegenheit darstellen, aber finden keinerlei Beachtung, da der VAR nur bei Elfmetersituationen eingreift.
Bei erfolgreicher Challenge sollte der Trainer seine Challenge zurück erhalten, bei erfolgloser sollte zum Beispiel der Ballbesitz, falls nicht bereits geschehen, an das gegnerische Team zum Beispiel in Form eines Torabstoßes gehen.
Die Vor- und Nachteile einer möglichen Challenge
Der größte Vorteil an einer möglichen Challenge wäre zweifelsohne, dass die Schiedsrichter etwas aus der Schusslinie genommen würden und der Unmut der Fans bei ausbleibendem Videostudium sich eher auf das eigene Funktionärsteam und weniger auf die Unparteiischen richten würde.
Zudem würden die Diskussionen am Seitenrand und der damit verbundene Unmut und auch die Unruhe der Trainerbänke abnehmen, da diese nun selbst entscheiden könnten, wann eine Entscheidung überprüft werden könnte und wann nicht.
Die Spielzeit würde vermutlich deutlich erhöht werden, da nicht mehr nach jeder strittigen Szene alles überprüft werden müsste von Seiten der Schiedsrichter, sofern keine Challenge vorliegt, sondern das Spiel sofort fortgesetzt werden könnte.
Die Diskussionen im Nachgang einer Partie und die damit verbundenen Beschwerden der Verantwortlichen würden abnehmen wenngleich sie, aufgrund der eben erläuterten möglichen unterschiedlichen Bewertungen, nicht ganz verschwinden würden, da Entscheidungen trotz eingesetzter Challenge, nicht immer gleich getroffen werden würden.
Ein mögliches Problem in der Umsetzung könnte sich jedoch für die Verantwortlichen der Teams ergeben. Obwohl inzwischen jedes Team auf der Bank Tablets und damit verbundenes Videomaterial besitzt, kann es teilweise mehrere Kameraeinstellungen und damit verbunden Zeit bis zu einer möglichen Sichtung der potenziellen Fehlentscheidung kommen. Zeit, die eventuell nicht immer gegeben ist.
Ein weiteres Problem könnte entstehen durch die verschiedenen Perspektiven. Teilweise ist das Videomaterial nicht immer eindeutig. Während die Szene in Bochum am Wochenende in jeder Perspektive ersichtlich war, gab es in der Vergangenheit genügend Fehlentscheidungen, die nur in bestimmten Perspektiven zu erkennen waren. Diese müssten jedoch den Unparteiischen dann auch gezeigt werden und die Entscheidung darüber, welches Bildmaterial im Videostudium gezeigt wird, dürfte nicht ausschließlich in der Verantwortung des VAR liegen.
Fazit: Die Challenge sollte diskutiert werden
Der Trainer des 1. FC Köln, Steffen Baumgart, sagte auf Nachfrage des „kicker“ zur Challenge: „In solchen Fällen, in denen offensichtlich klare Fehlentscheidungen getroffen werden, sollten Trainer diese Möglichkeit bekommen.“
Auch Schalkes Trainer Thomas Reis meinte, dass dies „eine Möglichkeit sein könnte“.
Die positiven Argumente überwiegen vermutlich den negativen, wenngleich die Umsetzung diskutiert werden und die Umsetzbarkeit geprüft werden muss.
Dass die Diskussionen zukünftig mehr gegen die eigenen Funktionäre und weniger gegen die Schiedsrichter gerichtet werden würden, dürfte besonders für das zunehmend rückläufige quantitative Schiedsrichterwesen in Deutschland von Vorteil sein.