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Adventskalender #9: Borussias Jubeltraube im Estadio Alfredo di Stéfano

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Vom „größten Moment, den der Verein seit einiger Zeit erlebt hat“ war in dieser Woche im Zusammenhang mit Borussias Last-Minute-Siegtor gegen den VfL Wolfsburg in einem Artikel der Rheinischen Post zu lesen. Damit liegen die Autoren des Artikels – Jannik Sorgatz, Thomas Grulke und Hannah Gobrecht – mit Blick auf die phasenweise nicht enden wollende Regression Borussias in den letzten rund zweieinhalb Jahren wohl absolut richtig.

Schließlich ist es heute schon auf den Tag genau drei Jahre her, dass Borussias Spielertraube nach der 0:2-Niederlage bei Real Madrid im Estadio Alfredo di Stéfano gemeinsam auf Tablets das Spiel zwischen Inter und Shakhtar Donezk verfolgte und nach dem Schlusspfiff im San Siro in kollektiven Jubel ausbrach. Gegen so gut wie jede Wahrscheinlichkeit war das Parallelspiel in Gruppe B torlos zu Ende gegangen, sodass Borussia trotz der Niederlage in Madrid erstmals seit 1977 in die KO-Phase der Champions League (bzw. vormals Landesmeisterpokal) einzog und dabei Shakhtar Donezk und Inter hinter sich ließ.

Schöne Erinnerungen an einen Pyrrhussieg

Obwohl wir heute wissen, dass dieses Weiterkommen in der Champions League mit dem darauf folgenden Trainerbeben und dem zwischenzeitlichen Abkommen von bewährten Wegen und Prinzipien eher einem Pyrrhussieg als einem wirklich nachhaltigem Fortschritt gleichkam, wollen wir doch im Adventskalender nach nunmehr drei Jahren noch einmal einen Blick auf die Champions-League-Gruppenphase 2020/2021 werfen – rein sportlich ohne Frage eine der besten Momentaufnahmen der letzten Jahrzehnte.

Schon zum Auftakt der Gruppenphase in Mailand konnte man merken, dass Borussias dritte Champions-League-Teilnahme der Neuzeit sich anders anfühlte als in den ersten beiden Durchläufen. Erstmals hatte man das Gefühl, dass man gegen ein mit Weltstars gespicktes gegnerisches Team nicht mehr nur Sparringspartner sein wollte, sondern dass das Team ernsthafte Ambitionen auf das Weiterkommen in der Gruppe hegte.

Die Führung von Antonio Contes Inter glich Ramy Bensebaini per Elfmeter in der 63. Minute aus. Nach einem überragenden Zuspiel von Florian Neuhaus brachte Jonas Hofmann Borussia kurz vor Schluss in Mailand sogar in Führung. Erst in der Nachspielzeit glich Lukaku zwar verdient, wenn auch aufgrund des Zeitpunkts glücklich aus.

Schon eine Woche später begrüßte man Real Madrid im Borussia-Park. Mit dem typischem Borussia-Glück fielen all diese aus Fansicht großartigen Spiele natürlich in eine Zeit, in der kein einziger Zuschauer den Spielen beiwohnen durfte – die letzten 300 zugelassenen Zuschauer wurden erst am Nachmittag des Heimspiels gegen Real Madrid wegen einer zu hohen Covid-Inzidenz „ausgeladen“. Sehr bitter!

Erinnerung an einen fast wahr gewordenen Traum: Eintrittskarte für das spätere Geisterspiel von Borussia vs. Real Madrid im Borussia-Park am 27.10.2020 (eigenes Bild)

So konnten wir alle nur im Fernsehen verfolgen, wie Marcus Thuram Borussia in der Mitte der ersten und zweiten Hälfte mit zwei sehenswert herausgespielten Toren 2:0 gegen Real Madrid in Führung brachte. Erst in der 87. und 93. Minute erlag Borussia dem gewaltigen Druck Reals und musste durch Benzema und Casemiro noch zwei Gegentore zum 2:2 hinnehmen. Dennoch reiste man nach den zwei Herkulesaufgaben gegen Inter und Real in brauchbarer Ausgangslage nach Kiew, wo das Spiel gegen Shakhtar Donezk wartete.

Nach einem überragenden Angriff über Stevie Lainer erzielte Plea dort früh das 1:0 für Borussia, ein abgefälschter Distanzschuss von Christoph Kramer (unverschämterweise als Eigentor gewertet) führte schnell zum 2:0, ehe Plea mit einem seiner schönsten Treffer überhaupt aus 20 Metern zum 3:0 erhöhte. Bensebaini, Plea und Stindl stellten schließlich auf 6:0 und Borussia spielte sich in einen absoluten Rausch. Es ist wohl nicht vermessen, das Spiel als eine der größten Europapokalnächte in Borussias Geschichte zu bezeichnen – und das will schon etwas heißen. (Die Highlights des Spiels lohnen sich immer noch!)

Auch im Rückspiel ließ man Shakhtar keine Chance und sogar Oscar Wendt (per Freistoß), Breel Embolo (per Fallrückzieher) und Nico Elvedi durften sich bei dem 4:0 im erneut leeren Borussia-Park in die Liste von Borussias Champions-League-Torschützen eintragen.

Aufgrund der sehr guten Ausgangslage mit acht Punkten aus den ersten vier Gruppenspielen warf auch das 2:3 im Heimspiel gegen Inter Borussia noch nicht aus der Bahn. Matteo Darmian brachte Inter zwar früh in Führung, doch glich Plea den Rückstand kurz vor dem Pausenpfiff mit einem spektakulären Kopfball-Aufsetzer wieder aus. In der letzten halben Stunde geriet Borussia dann durch einen Doppelschlag des in dieser Saison überragenden Lukaku mit 1:3 ins Hintertreffen. Borussia verkürzte kurz darauf durch ein Plea-Tor nach einem Zuspiel von Thuram zum 2:3. Kurz vor Schluss erzielte Plea dann mit seinem dritten Treffer auch noch den regulären Ausgleich, dessen Aberkennung bis heute wohl nur Schiedsrichter Danny Makkelie verstanden haben wird.

War das aberkannte 3:3 gegen Inter nützlich für Borussia?

Doch möglicherweise war die Aberkennung des Tores sogar nützlich für Borussia: schließlich wäre Inter mit dem 3:3 in Gladbach schon final ausgeschieden gewesen und hätte gegen Shakhtar möglicherweise halbherzig gespielt und verloren, wodurch Borussia mit dem 0:2 in Madrid auf Platz 3 abgerutscht wäre. Glück im Unglück für Borussia also.

So kam es also, dass Borussias Spielertraube heute vor drei Jahren auch nach dem chancenlosen 0:2 durch zwei Benzema-Treffer in Reals Trainingsstadion noch auf ein Weiterkommen hoffen durfte und sich gemeinsam vor die Tablets kauerte. Zum weiteren Glücksfall für Borussia wurde dabei, dass Shakhtar wider Erwarten nicht auf ein Weiterkommen in der Champions League spielte, sondern das 0:0 zu verteidigen versuchte, um die Europa League zu erreichen.

Nach entsetzlich langen sieben Minuten Nachspielzeit in Mailand – in denen Romelu Lukaku sogar noch mit dem Kopf das Tor des eigenen Mitspielers verhinderte – war dann gegen 23:00 Uhr Schluss im Parallelspiel und Borussias Spielerknäuel am Spielfeldrand verwandelte sich in eine Jubeltraube. Borussia hatte sich erstmals nach der Finalteilnahme 1977 wieder für ein KO-Spiel um den Champions-League-Pokal qualifiziert.

Der ambivalente Nachhall eines großen Erfolges

Im Nichtwissen über die Ereignisse des darauffolgenden Halbjahres und aller damit verbundenen Entwicklungen war dieser Moment sicher der sportliche Höhepunkt der jüngeren Vereinsgeschichte und der Höhepunkt einer retrospektiv teuer erkauften Turbo-Entwicklung unter Ex-Trainer Marco Rose. Man kann sich heute sicher ärgern, dass wir diesen Moment nicht mit 10.000 Boruss:innen im Bernabeu-Stadion erleben durften.

Doch irgendwie war in diesem Moment alles gut so, wie es war. Die Bilder vom Spielerknäuel über den Tablets im menschenleeren und winterlichen Di-Stefano-Stadion werden jedenfalls immer mit dieser sportlich großartigen Champions-League-Gruppenphase Borussias verbunden bleiben und waren ein kleiner Lichtblick in einer für viele komplizierten Zeit. Irgendwann werden aus diesen kuriosen Jubelszenen am 9. Dezember 2020 sicher Bilder für die Borussia-Geschichtsbücher.

Vielleicht werden sie dann ja abgedruckt neben Bildern aus der DFB-Pokalsaison 2023/2024 und Fotos vom „größten Moment, den der Verein seit einiger Zeit erlebt hat“. Nach nunmehr fast drei Jahren Durststrecke und Stillstand wird es jedenfalls Zeit für neue große Geschichten – hoffentlich mit weniger ambivalentem Nachhall als bei der Betrachtung der Champions-League-Gruppenphase 2020/2021.  

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