30. April 2011. Borussia Mönchengladbach ist Tabellenvorletzter der Bundesliga. Trotz eines Aufschwungs unter Neu-Trainer Lucien Favre stand der Verein seit über einem halben Jahr nicht mehr auf einem Nicht-Abstiegsplatz. Im Auswärtsspiel bei Hannover 96 am 32. Spieltag steht es nach 75 Minuten 0:0. Trotz absoluter Feldüberlegenheit fehlt an diesem Tag in Hannover ein Tor, um die realistische Chance auf den Klassenerhalt über die Relegation zu wahren. Die späte Aufholjagd unter Lucien Favre droht zu scheitern. Der dritte Abstieg innerhalb von nur zwölf Jahren bahnt sich an. Sogar die Verantwortungsübernahme durch das Chaos-Bündnis „Initiative Borussia“ unmittelbar nach Saisonende scheint denkbar. Der gesamte Verein steht vor dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit und ins Chaos.
Gut informierte Borussia-Fans werden wissen, wie die Geschichte weitergeht: inmitten dieser bedrohlichen Gemengelage fasst sich Shootingstar Marco Reus Minuten vor dem finalen Knockout aus über 20 Metern ein Herz und donnert den Ball unter die Latte des von Ron-Robert Zieler gehüteten Tors, von wo aus der Ball nach unten abspringt und im Tor einschlägt. Durch den späten Sieg schraubt die Borussia ihr Punktekonto auf 32 und erreicht schließlich durch vier weitere Punkte in Spielen gegen Freiburg und den HSV noch die Relegation. Der Rest ist Geschichte.
Warum aber dieser Aufriss in einem Adventskalender? Dass es inzwischen mehr als genug Rückblenden zur spektakulären Rettung 2010/2011 und zur darauf folgenden Explosionsentwicklung Borussias unter Lucien Favre gab, ist auch dem Autoren dieses Artikels klar. Die Geschichte ist definitiv ausreichend dokumentiert.
Glück und Pech: schwer vermittelbare Analysefaktoren
Die Geschichte – und insbesondere Reus‘ später Siegtreffer in Hannover – eignet sich aber auch zur Illustration eines selten beachteten Phänomens in der Analyse und Bewertung von Fußballspielen. Die Rede ist vom Faktor Glück und wie stark er sich auf die Bewertung von Arbeit und Ergebnissen im Fußball auswirkt.
Die Arbeit von sämtlichen Akteuren im Fußball (z.B. Spieler:innen, Trainer:innen, andere Funktionsträger:innen) wird fast immer von den Ergebnissen ihrer Mannschaften her beurteilt. Fans, Medien und Außenstehende erzählen Geschichten immer von den Resultaten der Spiele und Wettbewerbe ausgehend. Das ist natürlich absolut menschlich und nachvollziehbar – schließlich ist Fußball in letzter Instanz immer ein Ergebnissport.
Beinahe sämtliche Erfolge und Misserfolge von Fußballmannschaften hängen dabei aber auch vom Faktor Glück ab. Vor allem im Spitzenbereich, wo die Unterschiede zwischen den Teams immer kleiner werden, ist Glück (bzw. auf der Kehrseite Pech) ein maßgeblicher Faktor. In einer verwissenschaftlichten, um Kontrolle und Verständnis sämtlicher Vorgänge bemühten Fußballwelt taugt Glück zwar nicht als beliebtes Erklärungskriterium in Spielanalysen und -berichten. Und auch viele Fans werden sich den jüngsten Abstieg ihres Lieblingsclubs wohl sicher ungern durch „Spielpech“ erklären lassen.
Trotzdem ist ein im Pokalfinale vom Innenpfosten herausspringender Ball manchmal einfach Pech und eine knappe Niederlage in einem wichtigen KO-Spiel nicht zwangsläufig Resultat eines falschen Matchplans oder einer schlechten Spielvorbereitung, sondern manchmal auch nur Ergebnis einer fragwürdig langen Nachspielzeit oder einer diskutablen Elfmeterentscheidung.
In einer Parallelwelt ist Borussia 2015 ein Fahrstuhlclub
Ein Gedankenexperiment zur Veranschaulichung: stellen wir uns vor, Marco Reus‘ Ball fliegt im eingangs erwähnten Szenario an die Latte, von dort in die Arme von Ron-Robert Zieler und dann zurück ins Spiel. Borussia spielt 0:0 in Hannover, steigt trotz der Punkte gegen Freiburg und Hamburg als Tabellensiebzehnter ab und muss die (später in der Realität in die Champions League stürmende) Mannschaft für den Neuaufbau in Liga 2 umbauen. Manager Max Eberl muss aufgrund mangelnder Lobby seinen Hut nehmen, die Initiative Borussia übernimmt den Club und schasst den Abstiegstrainer Lucien Favre. 2015 steigt Borussia nach vier Jahren Zweitklassigkeit unter Markus Gisdol wieder in die Bundesliga auf und ist seither ein Fahrstuhlteam.
Nach dem Abstieg war die Presse sich absolut einig: Max Eberl hat zu lange an Alt-Trainer Michael Frontzeck festgehalten und ist als Manager eines Bundesligateams ohnehin ungeeignet. Für ihn war das doch alles wohl eine Nummer zu groß. Lucien Favre als taktischer Feingeist war zudem die falsche Wahl für die schwierige Rettungsmission. Trotz der guten Ansätze unter Favre wäre eine „Feuerwehrmann“ sicherlich die erfolgversprechendere Wahl gewesen. Ohnehin fehlte es der Mannschaft in letzter Instanz doch an Qualität, um weiterhin Bundesliga-Fußball zu spielen. Spieler wie Reus, ter Stegen oder Neustädter waren noch zu jung, um ein Team durch die Bundesliga zu tragen. Sie müssten wohl erst einmal in der zweiten Liga reifen.
Aus heutiger Sicht ziemlich irre Gedanken, oder? Allzu abwegig wären diese Urteile im Falle eines Abstiegs aber ganz sicher nicht gewesen. Vielleicht kann man über einzelne Sätze streiten. Der grundsätzliche Ton der Kritik wäre aber in diese Richtung gegangen. Dabei unterscheidet sich das geschilderte Szenario einzig und allein durch die in Gedanken um fünf Zentimeter veränderte Flugbahn des Reus-Schusses in Hannover. Reines Glück, dass der Ball in der Realität ins Tor und nicht zu Zieler zurück flog.
Fünf Zentimeter Glück prägen ein Jahrzehnt
Glück oder Pech in der Größenordnung von fünf Zentimetern können also die Wahrnehmung und die Sicht auf die Arbeit eines ganzen Jahrzehnts bei einem Fußballverein maßgeblich beeinflussen und beinahe komplett auf links krempeln. Glück und Pech in einzelnen Szenen können Spieler- und Funktionärskarrieren komplett verändern.
Was also nun? Braucht es gar keine Analysen mehr und haben Medien und Sportbeobachter:innen alle Unrecht, wenn sie aufgrund von Ergebnissen zu Urteilen und Bewertungen der Geschehnisse auf dem Platz kommen? Natürlich nicht! Fundierte Analysen, Kommentare und Beurteilungen sind wichtiger Teil der Sportberichterstattung und der Arbeit in Vereinen. Ergebnisse sind dabei eine unabdingbare Orientierung und das Maß aller Dinge. Menschen müssen schließlich immer Sinn aus dem Gesehenen und Erlebten machen und eine „Geschichte“ aus den Ereignissen erdenken, um Ereignisse angemessen verarbeiten zu können.
Als frusterprobter Fußball- und Gladbach-Fan mit dem Hang zum Zerdenken von Sachverhalten hat die folgende Erkenntnis aber trotzdem eine versöhnliche Note: viel häufiger als man annimmt geht es auch im hochprofessionellen Fußball um bloßes Glück und Pech. Sich zu vergegenwärtigen, dass Borussia vor zwölf Jahren nur um fünf Zentimeter am Abgrund vorbeischrammte, lässt einen dabei so manches Mal auch nach belastenderen Spieltagen ruhiger einschlafen.